Sex und Sehnsucht, Partydrogen und Techno-Beats
„Das Buch schildert die Erfahrungen und Erinnerungen des Autors“, schreibt dieser höchstselbst im Nachwort: Mag sich die eine oder andere Begebenheit auch tatsächlich anders zugetragen haben, so seien doch alle Ereignisse an die Wirklichkeit angelehnt. Die Namen einiger im Buch genannten Personen wurden geändert. … und mutmaßlich sind es die Namen, deren Träger und Trägerinnen im Buch nicht so gut wegkommen oder aus anderen Gründen besser nicht erkannt werden wollen oder sollen. Es ist eigentlich auch nicht wichtig, ob alles genau so stimmt oder nur so gestimmt haben könnte. Dieses Buch liest man nicht, um Klatsch und Tratsch über die Promis der Neunziger zu erfahren. Auch wenn es ein interessantes Detail ist, dass Michael Ruge in seiner Türsteherzeit auch mal Barbara Schöneberger abgewiesen hat; oder Elton. Und Kate Moss rausschmeißen musste, weil sie auf der Toilette mit zu vielen Männern gleichzeitig zu viel gekokst hat.
Ein junger Schauspieler auf der Suche nach seiner Traumkarriere
Die Geschichte beginnt, als Michael Ruge, frisch von der Schauspielschule in Hamburg, den Verheißungen des endlich freien Berlins folgt und nach Mitte zieht, bereit für die Traum-Karriere. Aus der so gar nichts werden will. Die freie Zeit und auch die innere Leere nach jeder neuen Enttäuschung füllt er mit Kampfsporttraining, bald macht er seine eigene kleine Kampfsportschule auf. Damals waren Wohnungen und Häuser spottbillig, standen leer und wurden auch einfach so genutzt. Für alles mögliche und natürlich auch für Bars, Clubs und Discos. Als Verlegenheitsjob wird er Türsteher. Ruge, aufgewachsen im Hamburger Rotlichviertel St. Pauli, hat wie eine natürliche Begabung das richtige Händchen und Standing dafür. Er macht Karriere und wird so was wie der Türsteher-Star von Berlin-Mitte. Ihm gefällts. In einer Zeit, in der Türsteher genauso zu jedem Club und zum Team gehörten wie der DJ, der Besitzer oder der Barkeeper, ist es ein fordernder, aber erfüllender und interessanter Job. Bei dem man jede Menge Leute kennenlernt, Frauen natürlich auch. Er ist Anfang zwanzig und sein Leben besteht die nächsten Jahre aus Kampfsporttraining und Türstehen, Schlafen, Feiern. "Und aus Ficken."
Türsteher statt Schauspieler, Frauenheld statt Familienvater
Mit seinem Kumpel Frank betreibt er das wie ein gemeinsames Hobby: Frauen angucken. Anmachen, Abschleppen. Und Aufpassen, nicht die Freundin von irgendjemand Wichtigem anzubaggern. Sie flirten im Team und führen Strichlisten, wer am Wochenende mehr Frauen hatte. Sie schicken sich SMS mit Vollzugs-Meldungen und reden ständig drüber. Warum sie das machen, und wie es war. Ums Eigentliche geht es eher weniger, ausführliche Sexszenen gibt es kaum. Während der gutbürgerlich aufgewachsene Frank sich von der rigiden Moral seiner Eltern freivögeln will, ist Ruge selbst immer ein bisschen auf der Suche nach der romantischen großen Liebe. Jeder ONS eine Möglichkeit. Jedes Haus und jeder Hinterhof, jede Bar und jeder Park erzählen bald eine solche Mini-Lovestory: da gibt es den Brotladen, in dem er Lara kennengelernt hat, seine große Liebe, die von ihm schwanger wurde und sich dann getrennt hat. Die Wohnung von Sam, der koksfreudigen Modedesignerin, das Antiquaritat und Denise, den Hauseingang mit Celine, Mona vor ihrem Kohleofen, Rosa, die Nachbarin, Henriette, Claudia, Sophie; oder das Restaurant in der Rosenthaler Straße, in dem er und ein Freund nach Feierabend einen Dreier mit der Geschäftsfüherin hatten.
Am Ende kommt die Gentrifizierung
Klar, das geht nicht ewig. Seine Kumpels werden sesshaft und gründen Familie, er wird älter und auch Berlin wird erwachsen: Das Ordnungsamt übernimmt die Organisation, illegale und freie Clubs müssen schließen und werden von der Westberliner Mafia übernommen. Es wird ordentlich und teuer. Und anders. Die Gentrifizierung beginnt. „Es zogen immer mehr Menschen nach Berlin, die mit der Stadt nichts zu tun hatten und auch gar nicht zu ihr passten“, resümiert Ruge am Schluss. Immer mehr, die tagsüber arbeiten gehen und am Wochenende halt feiern wollten, aber sie wollten nichts bewegen. Es gibt zwei Kategorien von Menschen, ist seine Erfahrung: "Manche stecken ihre Enerige, ihre Kreativität und ihr Herzblut in etwas, das ist die eine Kategorie. Und dann gibt es die, die nur etwas für sich selbst rausziehen wollen, das ist die andere. "Wenn die zweite Kategorie in die Überzahl kommt, ensteht nichts mehr." Das ist sein Fazit am Ende seiner Zeit in Berlin-Mitte, am Ende des Buches. Und es passt eigentlich auf alles im Leben. Ob Freundschaft, Vereine, Nachbarschaften, Familie, Firmen und Teams, es gibt die mit Herzblut, und die ohne. Michael Ruge ist sicherlich einer "mit", so macht er alles: Trainieren, Freundschaften, Arbeiten, Feiern. Und "Ficken" eben auch. So wie er darüber schreibt, war jedes Date ein Erlebnis, eine Erfahrung, etwas Besonderes.
Fazit
Kampfsporttraining, Arbeiten als Türsteher, Schlafen, Feiern und Sex. So sieht das Leben von Michael Ruge aus, im Berlin-Mitte der 90iger. Ein sehr persönlicher Einblick in diese Zeit voll Aufbruchstimmung, Anrachie, Feierlust und sexueller Erlebnishungrigkeit - eine schöne Erinnerung für alle, die dabei waren. Und eine hochinteressante Lektüre für alle, die zu jung sind, um dabei gewesen zu sein.
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